Rückblick 1. 4. 2011: "Die Straße der Betrogenen"

Einen Tag, nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Bankentag darauf hingewiesen hatte, dass sich eine Bankenkrise wie die zurückliegende nicht wiederholen dürfe, wurde am 1. 4. 2011 in der Filmreihe „Freitags bei Birol“ Marcus Vetters Dokumentarfilm „Straße der Betrogenen“ (2003) über die Bankenkrise des Jahres 2002 in Argentinien gezeigt. Wieder einmal war das Café de Paris im Loretto übervoll, dank der lauen Temperaturen konnten auch noch einige Gäste den Film durch die geöffnete Tür von draußen verfolgen.

Die Bankenkrise in Argentinien wurde überwunden – das zeigt der Film nicht mehr –, die Sparer haben ihre verloren geglaubten Einlagen zurückerhalten. Dass der Film ihre wütenden, teils militanten, gleichzeitig aber auch hilf- und hoffnungslos wirkenden Proteste zeigt, macht im Frühjahr 2011 unmittelbar betroffen: So könnten wir auch als Betrogene dastehen, wenn nicht eine gigantische Staatsintervention die Fehler der Banker ausgebügelt und unsere Spareinlagen gesichert hätte.

Doch Marcus Vetters Film ist nicht nur wegen der für uns eingetretenen Aktualität auch im Jahr 2011 immer noch sehenswert. Er zeigt intensiv zweierlei: wie unterschiedlich sich eine Krise in verschiedenen Milieus der gleichen Gesellschaft  auswirkt und wie Menschen in ihrem Kampf um gesellschaftliche Selbstbehauptung ihre Würde behalten können.

„Straße der Betrogenen“ begleitet vier Menschen oder Familien: eine Familie, die als „Cartoneros“ Altpapier sammeln, um es an Papierbetriebe weiterzuverkaufen; den Inhaber eines Luxus-Bekleidungsgeschäfts; eine Mutter, die ihren Sohn zum Tangotänzer ausbilden lässt und sich davon eine bessere Zukunft für ihn verspricht; und wütende Sparer, die immer wieder vor und in den Banken protestieren und ihr Geld zurückfordern.

Wie in Robert Altmans Short Cuts werden die vier Handlungsstränge in Episoden zerlegt und gegeneinander geschnitten. Immer wieder führen die Wege aller Personen über die Prachtstraße von Buenos Aires, die Florida: Mal während der Geschäftszeiten, wenn der Geschäftsmann die Straße stolz entlangparadiert, mal bei Nacht, wenn die Cartoneros ihre Rohstoffe einsammeln, mal während eines Protests vor den Banken, bei dem die Rolläden aufgerissen werden, mal mit dem Taxi auf dem Weg vom oder zum Tangounterricht. Saskia Metten, die Cutterin des Films, stand nach der Vorführung für Rückfragen zur Verfügung und berichtete, dass die filmisch in Beziehung Gebrachten nur ein Mal wirklich zum Teil zeitgleich  am gleichen Ort waren und sich hätten begegnen können. Das eindrucksvolle Neben-Miteinander der Personen Films kommt durch den Schnitt zustande.

Nur eine Gruppe, die Sparer, scheinen von der Bankenkrise hart getroffen zu sein. Die anderen haben entweder keine Ersparnisse, die sie hätten verlieren können, oder wurden nicht existentiell getroffen.

Vielleicht ist es die Mischung aus historischer Distanz zu dem Schicksal der Porträtierten und der Beinahe-Aktualität des Gezeigten für uns, die den Blick für eines im Film schärft: Dass Marcus Vetter die Dargestellten nicht entlarvt oder zur Erzeugung von Mitleid instrumentalisiert, sondern ihnen ihre je eigene Würde lässt, mit der sie ihr Leben führen und in der sie sich sehen wollen: die Demonstrierende, die auch im schrillen Protest nicht lächerlich wirkt; die Mutter, die alles ihr Mögliche dafür tut, dass ihr Sohn einmal ein besseres Leben hat; der Vater, der die Sicherheit seiner Familie auf den gefährlichen Straßen gewährleistet; ja sogar der Geschäftsmann, der es als Interessenkonflikt begreift, dass ihn die Armen und Protestierenden auf der Florida stören; sein Fahrer, den die Armen nur anekeln und ängstigen, bricht das nicht zustande.

Die Szene, in der die Ärmsten der vier, die Cartonero-Familie, sich morgens zum Gebet versammelt und dafür dankt, dass es ihr gut gehe, könnte man als Beleg sehen, dass Religion Opium fürs Volk ist. Man kann aber auch lernen, wie man sein Leben so anschauen kann, dass man die eigene Würde darin entdeckt.

In der Diskussion nach dem Film erwähnte Saskia Metten, dass Marcus Vetter geplant hat, die vier nach 10 Jahren wieder aufzusuchen und ihr Schicksal seither zu dokumentieren. Es wäre schön, wenn wir einen solchen Film irgendwann zu sehen bekämen. Wie der Vergleich mit uns selbst dann ausfallen wird?

 

Frank Suppanz